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Bundesgerichtshof präzisiert Schutzpflichten von Wohnheimen für Menschen mit einer geistigen Behinderung

Wenn sich Heimbewohner bei einem Bad an zu heißem Wasser verbrühen, kann das im Einzelfall zu einer Haftung des Wohnheims führen. Um den konkreten Umfang der Schutz- und Obhutspflichten zu bestimmen, ging das Gericht dabei auch auf die Empfehlungen von DIN-Normen ein.

Bundesgerichtshof, Urteil vom 22.8.2019, Az. III ZR 113/18

Das ist passiert:

Eine geistig behinderte Frau lebt in einem Wohnheim für Menschen mit geistiger Behinderung. Zusätzlich zum Prader-Willi-Syndrom leidet sie unter einer Intelligenzminderung. Sie beabsichtigte im April 2013 ein Bad zu nehmen und bat eine der Betreuerinnen des Heimes um eine entsprechende Erlaubnis. Diese wurde ihr – wie auch schon in der Vergangenheit – erteilt. Die Heimbewohnerin ließ daraufhin heißes Wasser in eine mobile, in der Dusche bereitgestellte Sitzbadewanne ein, wobei die Temperaturregelung über einen Einhebelmischer ohne Begrenzung der Heißwassertemperatur erfolgte. Anders als in früheren – problemlos verlaufenen – Fällen war das ausströmende Wasser so heiß, dass sie schwere Verbrühungen an beiden Füßen und Unterschenkeln erlitt. Sie schrie lautstark, konnte sich aber nicht selbst aus der Situation befreien. Dies gelang erst, als ein anderer Heimbewohner ihr zur Hilfe eilte, das Wasser abließ und eine Pflegekraft herbeirief.

Bei der nachfolgenden Heilbehandlung im Krankenhaus wurden mehrere Hauttransplantationen durchgeführt. Es kam zu erheblichen Komplikationen. Inzwischen ist die Frau nicht mehr gehfähig und auf einen Rollstuhl angewiesen, weil sich so genannte „Spitzfüße" gebildet haben. Außerdem verschlechterte sich ihr psychischer Zustand, was sich u.a. in häufigen und anhaltenden Schreianfällen äußerte.

Die Frau verklagte die Trägerin des Wohnheims auf Schmerzensgeld und Schadensersatz wegen der erlittenen Verbrühungen. Das ausgetretene Wasser dürfte annähernd 100 °C heiß gewesen sein. Aber selbst eine konstante Einstellung der Wassertemperatur auf „nur" 60 °C sei zu hoch. Zur Abtötung etwaiger Keime genüge es, das Wasser einmal am Tag auf 60 °C aufzuheizen. In der DIN EN 806-2 für die Planung von Trinkwasserinstallationen werde für bestimmte Einrichtungen wie Krankenhäuser, Schulen und Seniorenheime eine Höchsttemperatur von 43 °C, in Kindergärten und Pflegeheimen sogar von nur 38 °C empfohlen. Es sei pflichtwidrig gewesen, sie ohne Aufsicht und insbesondere ohne vorherige Kontrolle der Wassertemperatur ein Bad nehmen zu lassen.

Das Landgericht hat die auf Zahlung eines Schmerzensgeldes von mindestens 50.000 € und einer monatlichen Rente von 300 € sowie auf Feststellung der Ersatzpflicht des Wohnheims für weitere materielle und immaterielle Schäden gerichtete Klage abgewiesen.

Die Berufung der Heimbewohnerin hat keinen Erfolg gehabt. Nach Auffassung des Oberlandesgerichts kann aus der DIN EN 806-2 keine Pflicht der Beklagten hergeleitet werden, die Wasserentnahmestelle mit einer Temperaturbegrenzung auszustatten. Es handele sich lediglich um eine technische Regel, die die Planung von Trinkwasseranlagen betreffe und überdies erst 2005 und damit erst Jahrzehnte nach Errichtung des Wohnheimgebäudes in Kraft getreten sei. Es könne den Mitarbeitern des Wohnheims auch nicht vorgeworfen werden, die Frau beim Baden nicht beaufsichtigt und die Wassertemperatur nicht kontrolliert zu haben.

Die Heimbewohnerin habe stets problemlos allein geduscht und gebadet. Sie sei vor dem Unfall in eine Hilfsbedarfsgruppe eingestuft gewesen, die für einen relativ hohen Grad an Selbstständigkeit spreche. Deshalb haben die Mitarbeiter des Wohnheims nicht ernsthaft mit der Möglichkeit rechnen können, dass sich die Frau beim Umgang mit der Mischbatterie verbrühen könnte.

Darum geht es:

Es geht darum, welchen konkreten Inhalt die Verpflichtung des Heimes hat, einerseits die Menschenwürde und das Freiheitsrecht eines körperlich oder geistig beeinträchtigten Heimbewohners zu respektieren und auf der anderen Seite sein Leben und seine körperliche Unversehrtheit zu schützen. Zudem geht es auch darum, ob bei dieser Fragestellung auch technische Regelungen wie insbesondere DIN-Normen einzubeziehen sind, die in Hinblick auf eine bestimmte Gefahrenlage bestehen.

Die Entscheidung:

Der Bundesgerichtshof hat die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Oberlandesgericht zurückverwiesen.

Der Heimbetreiber hat die Pflicht, unter Wahrung der Würde und des Selbstbestimmungsrechts der ihm anvertrauten Bewohner diese vor Gefahren zu schützen, die sie nicht beherrschen können. Über den konkreten Inhalt der Verpflichtung kann nicht generell, sondern nur aufgrund einer Abwägung sämtlicher Umstände des jeweiligen Einzelfalls entschieden werden.

Ein Heimbewohner, der dem Heimträger zum Schutz seiner körperlichen Unversehrtheit anvertraut ist, kann erwarten, dass der Heimträger ihn vor einer in einer DIN-Norm beschriebenen Gefahrenlage schützt, wenn er selbst auf Grund körperlicher oder geistiger Einschränkungen nicht in der Lage ist, die Gefahr eigenverantwortlich zu erkennen und angemessen auf sie zu reagieren. Um die daraus folgende Obhutspflicht zu erfüllen, muss der Heimträger, soweit dies mit einem vernünftigen finanziellen und personellen Aufwand möglich und für die Heimbewohner sowie das Pflege- und Betreuungspersonal zumutbar ist, nach seinem Ermessen entweder die Empfehlungen der DIN-Norm umsetzen oder aber die erforderliche Sicherheit gegenüber der dieser Norm zugrunde liegenden Gefahr auf andere Weise gewährleisten, um Schäden der Heimbewohner zu vermeiden.

Die Heimbetreiberin hätte deshalb entweder eine Begrenzung der Temperatur des austretenden Wassers entsprechend den Empfehlungen der DIN EN 806-2 technisch sicherstellen müssen. Dies wäre ohne Umbau oder Erneuerung der gesamten Heizungsanlage allein durch Austausch der Mischarmaturen in der Dusche möglich gewesen. Oder eine Betreuungsperson hätte anwesend sein müssen, um die korrekte Temperatureinstellung des Badewassers zuvor zu überprüfen.

Das bedeutet die Entscheidung für die Praxis:

Vor allem bedeutet die Entscheidung einen höheren Aufwand für Heimbetreiber. Sie müssen dafür sorgen, dass die Schutzbefohlenen sich beim Waschen nicht verbrühen können. Entweder müssen sie dazu technischen oder personellen Aufwand betreiben.

Falls Angehörige von Ihnen in Heimen leben, fragen Sie ruhig nach, wie dort die Bewohner vor Verbrühungen beim Waschen geschützt sind.

Quelle: Bundesgerichtshof, Urteil vom 22.8.2019, Az. III ZR 113/18

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