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Bundessozialgericht erleichtert Zugang zu Behindertenparkplätzen

Der Neunte Senat des Bundessozialgerichts hat am 09.03.2023 entschieden, unter welchen Umständen das Merkzeichen „aG“, das für die Nutzung von Behindertenparkplätzen maßgeblich ist, zuerkannt werden muss. Demnach ist entscheidend, ob Betroffene auf normalen öffentlichen Wegen auch in fremder Umgebung keine weiteren Strecken mehr gehen können. Kann sich der schwerbehinderte Mensch dort dauernd nur mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung außerhalb seines Kraftfahrzeuges bewegen, steht ihm das Merkzeichen „aG“ zu (wenn auch die weiteren Voraussetzungen erfüllt sind). Eine bessere Gehfähigkeit in anderen Lebenslagen, etwa unter idealen räumlichen Bedingungen oder allein in vertrauter Umgebung und Situation, ist für dessen Zuerkennung grundsätzlich ohne Bedeutung.

Bundessozialgericht, Beschlüsse vom 09.03.2023, Az. B 9 SB 1/22 R und B 9 SB 8/21 R

Das ist passiert:

Die Kläger der beiden Verfahren beantragten aus unterschiedlichen Gründen das Merkzeichen „aG“, das unter anderem zur Nutzung der Behindertenparkplätze berechtigt.

Der Kläger des ersten Verfahrens (Az. B 9 SB 1/22 R) leidet unter anderem an einer fortschreitenden Muskelschwunderkrankung mit Verlust von Gang- und Standstabilität. Zwar ist ihm das Gehen auf einem Krankenhausflur möglich. Eine freie Gehfähigkeit ohne Selbstverletzungsgefahr im öffentlichen Verkehrsraum mit Bordsteinkanten, abfallenden oder ansteigenden Wegen und Bodenunebenheiten besteht aber nicht mehr.

Der Kläger aus dem zweiten Verfahren (Az. B 9 SB 8/21 R) kann infolge einer Entwicklungsstörung nur in vertrauten Situationen im schulischen oder häuslichen Bereich frei gehen, nicht jedoch in unbekannter Umgebung.

In beiden Fällen lehnten die Behörden und das Landessozialgericht die Erteilung des Merkzeichens „aG“ ab. Dagegen wehrten sich beide Betroffene.

Darum geht es:

Das Bundessozialgericht musste entscheiden, wann unter welchen Umständen eine Gehbehinderung anzunehmen ist, die es rechtfertigt, das Merkzeichen „aG“ zu erteilen.

Die Entscheidung:

Das Bundessozialgericht hat im ersten Fall die erste Voraussetzung für das Merkzeichen „aG“, eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung, als erfüllt angesehen. Es muss jedoch auch die zweite Voraussetzung, wonach die mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung einem Grad der Behinderung (GdB) von 80 entsprechen muss, erfüllt sein. Das konnte das Bundessozialgericht nicht abschließend entscheiden. Deshalb hat das Bundesozialgericht den Rechtsstreit an das Landessozialgericht zurückverwiesen. Das Landessozialgericht muss diese Voraussetzung noch prüfen.

Im zweiten Fall hat das Bundessozialgericht entschieden, dass dem Gehbehinderten das Merkzeichen „aG“ zusteht. Der auf volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe von behinderten Menschen am Leben in der Gesellschaft gerichtete Sinn und Zweck des Schwerbehindertenrechts umfasst gerade auch das Aufsuchen veränderlicher und vollkommen unbekannter Einrichtungen des sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens. Die Gehfähigkeit ausschließlich in einer vertrauten Umgebung steht der Zuerkennung des Merkzeichens „aG“ nicht entgegen. Die mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung des Klägers entspricht auch einem GdB von 80.

Das bedeutet die Entscheidung für die Praxis:

Mit dieser Entscheidung hat das Bundessozialgericht die Integration und die Teilhabe behinderter Menschen am Leben gefördert. Als Maßstab wurde die Fortbewegungsfähigkeit im öffentlichen Raum zugrunde gelegt und nicht die Fortbewegungsmöglichkeit in einem geschützten Rahmen.

Quelle: Bundessozialgericht, Beschlüsse vom 09.03.2023, Az. B 9 SB 1/22 R und B 9 SB 8/21 R, Pressemitteilung vom 10.03.2023

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