Aktuelle Rechtsprechung

Gerichte müssen die grundsätzliche Entscheidung für die Betreuung durch Angehörige berücksichtigen

Sind behebbare Mängel bei der Ausübung der Vorsorgevollmacht festzustellen, etwa, wenn zwei bevollmächtige Angehörige sich nicht über die Art und Weise der Führung der Betreuung einigen können, erfordert der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zunächst den Versuch, mittels eines zu bestellenden Kontrollbetreuers oder einer Kontrollbetreuerin auf die Bevollmächtigten positiv einzuwirken. Erst wenn dieser Versuch scheitert, kann von dem grundsätzlichen Wunsch der Betroffenen, lieber von Familienangehörigen betreut zu werden, abgewichen werden. Das Gericht ist verpflichtet, sich einen persönlichen Eindruck von den Betroffenen zu verschaffen.

Bundesgerichtshof, Beschluss vom 29.03.2023, Az. XII ZB 515/22; www.bundesgerichtshof.de


Das ist passiert:

Bereits im Jahr 2006 hatte eine Frau ihrer Tochter und ihrem Enkel Vorsorgevollmachten zur jeweils alleinigen Ausübung erteilt. Bis 2021 wurde sie in häuslicher Intensivpflege 24 Stunden täglich im Haus des Enkels durch einen Pflegedienst betreut, wobei auch der Enkel Maßnahmen der Grundpflege übernahm. Am 03.08.2021 erstattete der Pflegedienst eine Strafanzeige gegen den Enkel wegen Misshandlung von Schutzbefohlenen, laut derer er lebensgefährdende Manipulationen am Beatmungsschlauch vorgenommen haben soll. Am 16.08.2021 wurde die Betroffene durch eine vom Amtsgericht vorläufig bestellte Betreuerin in eine Intensivwohngemeinschaft verlegt.

Mit Beschluss vom 11.02.2022 hat das Amtsgericht eine Betreuung für den Aufgabenkreis der Aufenthaltsbestimmung, der Geltendmachung von Rechten der Betreuten gegenüber ihrem/ ihrer Bevollmächtigten, Gesundheitssorge, Heimangelegenheiten, Vermögenssorge und Vertretung gegenüber Behörden und Sozialversicherungsträgern eingerichtet und die bisher vorläufige Betreuerin als Berufsbetreuerin bestimmt.

Tochter und Enkel legten gegen diese Entscheidung Beschwerde ein, die vom Landgericht zurückgewiesen wurde. Dagegen richtete sich die Rechtsbeschwerde der Tochter.

Darum geht es:

Der Bundesgerichtshof musste entscheiden, ob die Einsetzung der Berufsbetreuerin rechtens war.


Die Entscheidung:

Der Bundesgerichtshof hielt die Rechtsbeschwerde für begründet. Deshalb hat er die angefochtene Entscheidung aufgehoben und an das Landgericht zurückverwiesen. Das Landgericht muss nun noch mal entscheiden.

Im Wesentlichen stützt der BGH seine Entscheidung auf zwei Argumente:

1. Das Landgericht hält sowohl Tochter als auch Enkel für ungeeignet, die Betreuung zu führen. Zwischen beiden Bevollmächtigten bestünden erhebliche innerfamiliäre Spannungen. Aufgrund ihrer Uneinigkeit in der Frage des Aufenthalts und der pflegerischen Versorgung würden sich beide in der Vollmachtausübung gegenseitig blockieren. Die Eignung des Enkels könne derzeit auch wegen der gegen ihn erhobenen und noch nicht abschließend geklärten Misshandlungsvorwürfe nicht bejaht werden. Die Tochter sei zur selbstständigen Ausübung der Betreuung nicht in der Lage, weil sie keine eigenen konkreten Vorstellungen darüber entwickele, wie sie sich um die Betroffene kümmern wolle, sondern nur den Pflegedienst für sie sprechen lasse. Objektiv betrachtet, sei die Berufsbetreuerin geeigneter, die Betreuung zu führen.

Gemäß § 1814 Abs. 3 Satz 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) darf ein Betreuer nur bestellt werden, wenn dies erforderlich ist. An der Erforderlichkeit fehlt es, soweit die Angelegenheiten des Betroffenen durch einen Bevollmächtigten gleichermaßen besorgt werden können (§ 1814 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 BGB). Eine Vorsorgevollmacht steht daher der Bestellung eines Betreuers grundsätzlich entgegen. Steht die hier vom Landgericht nicht in Zweifel gezogene Wirksamkeit der Vorsorgevollmacht fest, kann gleichwohl eine Betreuung erforderlich sein, wenn der Bevollmächtigte ungeeignet ist, die Angelegenheiten des Betroffenen nach dessen Wünschen zu besorgen, insbesondere, wenn zu befürchten ist, dass er die Angelegenheiten des Vollmachtgebers nicht entsprechend der Vereinbarung oder dem erklärten oder mutmaßlichen Willen des Vollmachtgebers besorgt.

Laut BGH ist aber nicht entscheidend, ob die Berufsbetreuerin objektiv besser geeignet wäre, die Betreuung zu führen. Die grundsätzliche Entscheidung der Betroffenen gegen die Fremdbetreuung und für eine Vorsorgevollmacht für Familienangehörige sei zu respektieren. Außerdem hätte das Landgericht erst mildere Mittel prüfen müssen, bevor es von den Wünschen der Betroffenen abweicht. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz erfordert zunächst den Versuch, mittels
Koblenzer Betreuungsverein der AWO e.V. eines zu bestellenden Kontrollbetreuers auf die Bevollmächtigten positiv einzuwirken. Ein solcher Kontrollbetreuer kann Auskünfte verlangen und Weisungen erteilen. Außerdem kann das Betreuungsgericht gemäß § 1820 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 BGB auch unmittelbar zwischen zwei gleichrangig Bevollmächtigten regeln, wer in einer konkreten Frage allein entscheiden darf.

2. Zudem bemängelt der Bundesgerichtshof, dass das Landgericht verfahrensfehlerhaft von einer Anhörung der betroffenen Frau im Beschwerdeverfahren abgesehen hat. Auch wenn diese sich nicht äußern könne und deshalb nicht im Wortsinn „angehört“ werden kann, muss sich das Gericht dennoch einen persönlichen Eindruck von der Betroffenen verschaffen. Zwar kann nach § 34 Abs. 2 Gesetz über das Verfahren in Familiensachen (FamFG) die persönliche Anhörung eines Beteiligten unterbleiben, wenn hiervon erhebliche Nachteile für seine Gesundheit zu besorgen sind oder der Beteiligte offensichtlich nicht in der Lage ist, seinen Willen kundzutun. Nach der Rechtsprechung des Senats ist die Anwendung dieser Vorschrift auch im Anwendungsbereich von § 278 FamFG nicht ausgeschlossen. Sie entbindet das Gericht aber nicht von der in § 278 Abs. 1 Satz 2 FamFG enthaltenen Verpflichtung, sich einen persönlichen Eindruck vom Betroffenen zu verschaffen.

Das bedeutet die Entscheidung für die Praxis:

Der Bundesgerichtshof nimmt die Entscheidung zum Anlass, noch mal in aller Deutlichkeit auf die persönliche Anhörung der Betroffenen hinzuweisen. Sinn der Vorschrift ist es, sich einen persönlichen Eindruck vom Betroffenen zu verschaffen. Die Entscheidung stärkt zudem das Selbstbestimmungsrecht der Betroffenen. Mit einer Vorsorgevollmacht kann verhindert werden, dass letzten Endes ein Fremder über die persönlichen Belange entscheidet.

Falls Sie noch keine Vorsorgevollmacht haben, lassen Sie sich darüber in unserem Betreuungsverein beraten.

Quelle: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 29.03.2023, Az. XII ZB 515/22; www.bundesgerichtshof.de

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