AWO Betreuungsverein Koblenz Hauptnaviagtion
Mutter wehrte sich erfolgreich gegen ihre Entlassung als Betreuerin ihrer Tochter
Eine Mutter wehrte sich erfolgreich vor dem Bundesverfassungsgericht gegen ihre Entlassung als gesetzliche Betreuerin ihrer psychisch erkrankten Tochter. Demnach kann bei der Auswahl eines Betreuers oder einer Betreuerin nur in Ausnahmefällen vom Wunsch der betreuten Person abgewichen werden. Eine mangelnde Eignung der gewünschten Person darf nicht vorschnell angenommen werden.
Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 31.03.2021, Az. 1 BvR 413/20
Das ist passiert:
Im Jahre 2014 wurde für die Tochter der Beschwerdeführerin eine Betreuung eingerichtet, weil sie unter einer paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie litt. Die Mutter wurde als Betreuerin für den Aufgabenkreis Gesundheitsfürsorge einschließlich der damit verbundenen Aufenthaltsbestimmung bestellt.
In den Jahren 2018 und 2019 wurde die Betroffene mehrmals auf Antrag der Mutter jeweils kurzzeitig in der geschlossenen Abteilung des örtlichen psychiatrischen Krankenhauses untergebracht. Ein vom Amtsgericht eingeholtes Gutachten kam zu dem Ergebnis, dass eine weitere Unterbringung zur Heilbehandlung und zur Abwendung einer akuten Eigengefährdung dringend erforderlich sei. Der Gutachter empfahl eine geschlossene Unterbringung für mindestens sechs Monate, wobei ein Orts- und Betreuerwechsel der Betroffenen möglichst nicht zugemutet werden solle.
Dagegen empfahl die Betreuungsbehörde einen Betreuerwechsel hin zu einem unvorbelasteten, familienfremden Berufsbetreuer. Die behandelnden Ärzte sprachen sich in zwei schriftlichen Stellungnahmen ebenfalls für einen Betreuerwechsel aus. Es bestehe eine innerfamiliäre Dynamik, die für die Betroffene ausschließlich kontraproduktiv wirke.
Das Amtsgericht entließ deshalb gegen den ausdrücklichen Wunsch der Tochter die Mutter als Betreuerin und bestellte eine Berufsbetreuerin. Auf Antrag der Berufsbetreuerin genehmigte das Amtsgericht die Unterbringung der Betroffenen in der geschlossenen Abteilung eines psychiatrischen Krankenhauses sowie nachfolgend in der geschlossenen Abteilung eines psychiatrischen Heimes. Aufgrund dieses Beschlusses befand sich die Tochter von September 2019 bis April 2020 in einer von dem Wohnort ihrer Mutter ungefähr 120 Kilometer entfernten psychiatrischen Einrichtung.
Die gegen ihre Entlassung als Betreuerin gerichtete Beschwerde der Mutter wies das Landgericht zurück. Hiergegen erhob die Mutter jedoch Verfassungsbeschwerde.
Darum geht es:
Es geht darum, ob die Mutter durch die Entlassung als Betreuerin so weit in ihren Grundrechten verletzt ist, dass die Verfassungsbeschwerde begründet ist.
Die Entscheidung:
Die Verfassungsbeschwerde der Mutter hatte Erfolg. Die Entscheidung des Landgerichts, die Mutter als Betreuerin zu entlassen, verletzt sie in ihrem Grundrecht aus Art. 6 Abs. 1 Grundgesetz.
Dieser Artikel besagt, dass die Familie unter dem besonderen Schutz des Staates steht. Das Familiengrundrecht garantiert insbesondere das Zusammenleben der Familienmitglieder und die Freiheit, über die Art und Weise der Gestaltung des familiären Zusammenlebens selbst zu entscheiden. Es erfasst auch das Verhältnis zwischen Eltern und ihren volljährigen Kindern. Zwar treten mit wachsender Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit des Kindes Verantwortlichkeit und Sorgerecht der Eltern zurück. Unabhängig hiervon sind familiäre Bindungen im Selbstverständnis des Individuums jedoch regelmäßig von hoher Bedeutung und haben im Lebensalltag der Familienmitglieder häufig besondere praktische Relevanz. Sie zeichnen sich durch schicksalhafte Gegebenheiten aus und können von besonderer Nähe und Zuneigung sowie von Verantwortungsbewusstsein und Beistandsbereitschaft geprägt sein.
Dem Schutz der Familie ist auch bei der Bestellung einer Betreuerin Rechnung zu tragen. Aus Art. 6 Abs. 1 Grundgesetz folgt, dass nahe Familienangehörige bevorzugt als gesetzliche Betreuer eingesetzt werden sollten. Jedenfalls gilt das dann, wenn eine tatsächlich von familiärer Verbundenheit geprägte engere Bindung besteht.
Zudem setzt sich das Gericht mit den Gründen auseinander, wann ein Betreuer oder eine Betreuerin zu entlassen sind. Gemäß § 1908b Abs. 1 Satz 1 Bürgerliches Gesetzbuch ist eine Betreuerin zu entlassen, wenn ihre Eignung, die Angelegenheiten der Betreuten zu besorgen, nicht mehr gewährleistet ist oder ein anderer wichtiger Grund für die Entlassung vorliegt. Eine Betreuerin ist auch dann nicht mehr geeignet, wenn die Betreuung durch sie dem Wohl der Betreuten zuwiderläuft. Die fehlende Eignung muss nicht erwiesen sein, es genügen berechtigte Zweifel aufgrund konkreter Tatsachen. Eine Betreuerin muss im Hinblick auf die Regelung des § 1901 Abs. 2 Satz 1 BGB insbesondere in der Lage sein, ihre Entscheidungen an dem subjektiven Wohl der Betreuten – auch unter Hintanstellung eigener Vorstellungen und Wünsche hinsichtlich des aus Sicht der Betreuerin „objektiv“ Sinnvollen für die Betreute – auszurichten und die Betreute dabei zu unterstützen, im Rahmen ihrer Fähigkeiten eigene Wünsche und Vorstellungen zu entwickeln sowie umzusetzen.
Genau diese Punkte hat das Landgericht in der angegriffenen Entscheidung aber nicht ausreichend dargelegt. Die Entlassung der Mutter als Betreuerin wurde mit fehlender Eignung und dem entgegenstehenden Wohl der betroffenen Tochter begründet. Eine fördernde krankheitsgerechte Behandlung der Betroffenen sei in der Vergangenheit nicht erkennbar gewesen. Den Grund hierfür sieht das Landgericht in erster Linie in dem Rollenkonflikt, in dem sich die Beschwerdeführerin befinde. Die Beschwerdeführerin könne die Betreuung „aus ihrer emotionalen Grundsituation heraus“ nicht zum Wohl der Betroffenen führen und sei daher als Betreuerin ihrer Tochter nicht geeignet.
Die Betrachtung der Mutter-Tochter-Beziehung erfolgt dabei jedoch einseitig im Hinblick auf den bisherigen Verlauf der Behandlung der Tochter. Es wird nicht deutlich, dass dem Wert der familiären Beziehungen, dem innerfamiliären Zusammenhalt und der Familie als Schutzraum der Betroffenen darüber hinaus Bedeutung beigemessen wurde. Das Landgericht durfte insbesondere das Gutachten des gerichtlich bestellten Sachverständigen nicht unberücksichtigt lassen, der sich ausdrücklich gegen einen Betreuer- und Ortswechsel ausgesprochen hatte.
Zudem hätte das Landgericht dem ausdrücklichen Wunsch der Tochter, die Mutter als Betreuerin zu behalten, Rechnung tragen müssen. Der Vorrang des Willens der betroffenen Personen bei der Auswahl der Betreuerin ist Ausdruck des grundrechtlich verbürgten und umfassenden Selbstbestimmungsrechts betreuungsbedürftiger Personen. § 1897 Abs. 4 Satz 1 Bürgerliches Gesetzbuch ermöglicht nur in Ausnahmefällen die Bestellung einer anderen als von der Betreuten gewünschten Person, wenn die Befolgung des Wunsches der Betreuten deren Wohl zuwiderläuft.
Das bedeutet die Entscheidung für die Praxis:
Zum Glück kennt das deutsche Rechtswesen den Weg der Verfassungsbeschwerde. Dieser außerordentliche Rechtsbehelf ermöglicht es den Bürgerinnen und Bürgern, ihre grundrechtlich garantierten Freiheiten gegenüber dem Staat durchzusetzen. Sie können so gegen die Verletzung von Grundrechten vorgehen.
Die Verfassungsbeschwerde ist aber grundsätzlich erst dann zulässig, wenn zuvor der fachgerichtliche Rechtsweg vollständig durchschritten wurde (sogenannte Rechtswegerschöpfung). Darüber hinaus müssen alle zur Verfügung stehenden weiteren Möglichkeiten ergriffen worden sein, um eine Korrektur der geltend gemachten Verfassungsverletzung zu erreichen oder zu verhindern (sogenannte Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde). Im Jahr 2020 wurden rund 4.800 von 5.200 eingereichten Verfassungsbeschwerden nicht zur Entscheidung angenommen. Das Bundesverfassungsgericht muss die Beschwerde nur annehmen, wenn sie grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung hat oder wenn dies zur Durchsetzung eigener verfassungsmäßiger Rechte des Beschwerdeführers oder der Beschwerdeführerin angezeigt ist.
Quelle: Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 31.03.2021, Az. 1 BvR 413/20